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Aesop (Äsop, um 600 v. Chr.)
Die Stadt- und die Landmaus
Eine Landmaus hatte ihre Freundin, eine Stadtmaus, zu sich eingeladen
und empfing sie in ihrer sehr bescheidenen Wohnung aufs freundlichste.
Um ihren Mangel der sehr verwöhnten Städterin nicht merken zu
lassen, hatte sie alles, was das Landleben Gutes bot, herbeigeschafft und
aufgetischt. Da waren frische Erbsen, getrocknete Traubenkerne, Hafer und
auch ein Stückchen Speck, wovon die Landmaus nur bei außergewöhnlichen
Gelegenheiten aß.
Mit großer Genugtuung überschaute sie ihre Tafel und unterließ
nicht, ihrer Freundin unablässig zuzusprechen.
Aber die Stadtmaus, durch die vielen gewohnten Leckereien verwöhnt,
beroch und benagte die Speisen nur sehr wenig und stellte sich der Höflichkeit
halber so, als wenn es ihr schmecke, konnte aber doch nicht umhin die Gastgeberin
merken zu lassen, daß alles sehr wenig nach ihrem Geschmack gewesen
sei.
"Du bist eine recht große Törin", sprach sie zu ihr, "daß
du hier so kümmerlich dein Leben fristest, während du es in der
Stadt so glänzend führen könntest wie ich. Gehe mit mir
in die Stadt unter Menschen, dort hast du Vergnügen und Überfluß."
Die Landmaus war bald entschlossen und machte sich zum Mitgehen bereit.
Schnell hatten sie die Stadt erreicht, und die Städterin führte
sie nun in einen Palast, in welchem sie sich hauptsächlich aufzuhalten
pflegte; sie gingen in den Speisesaal, wo sie noch die Überbleibsel
eines herrlichen Abendschmauses vorfanden.
Die Stadtmaus führte ihre Freundin nun zu einem prachtvollen,
mit Damast überzogenen Sessel, bat sie, Platz zu nehmen, und legte
ihr von den leckeren Speisen vor. Lange nötigen ließ sich die
Landmaus nicht, sondern verschlang mit Heißhunger die ihr dargereichten
Leckerbissen.
Ganz entzückt war sie davon und wollte eben in Lobsprüche
ausbrechen, als sich plötzlich die Flügeltüren öffneten
und eine Schar Diener hereinstürzte. um die Reste des Mahles zu verzehren.
Bestürzt und zitternd flohen beide Freundinnen, und die Landmaus,
unbekannt in dem großen Hause, rettete sich noch mit Mühe in
eine Ecke der Stube.
Kaum hatte sich die Dienerschaft entfernt, als sie auch schon wieder
hervorkroch und noch vor Schrecken zitternd zu ihrer Freundin sprach:
"Lebe wohl! Einmal und nie wieder! Lieber will ich meine ärmliche
Nahrung in Frieden genießen, als hier bei den ausgesuchtesten Speisen
schwelgen und stets für mein Leben fürchten müssen."
Genügsamkeit und Zufriedenheit macht glücklicher als Reichtum
und Überfluß unter großen Sorgen. |
Buchtipps:
Fabeln
von Aesop, Rainer Nickel 100 S. Artemis & Winkler 2004
Gib
ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop. Hans J. Schädlich 90 S. Rowohlt 2001
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