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Andersen, Hans Christian (1805-1875)
"Die Folianten vergilben, der Städte
gelehrter Glanz erbleicht,
aber das Buch der Natur erhält jedes Jahre eine neue Auflage"
Das stumme Buch
An der Landstraße im Walde lag ein einsamer Bauernhof. Man
mußte mitten durch den Hofraum hindurch. Da schien die Sonne, alle
Fenster standen offen. Leben und Emsigkeit herrschte innen. Aber im Hofe,
in einer Laube aus blühendem Flieder, stand ein offener Sarg. Der
Tote war hier hinausgesetzt worden, denn am Vormittag sollte er begraben
werden. Niemand stand und blickte voll Trauer auf den Toten, niemand weinte
um ihn. Sein Gesicht war von einem weißen Tuche bedeckt und unter
seinem Kopfe lag ein großes dickes Buch, dessen Blätter jedes
ein ganzer Bogen aus grauem Papier waren. Und zwischen jedem lagen, verborgen
und vergessen, verwelkte Blumen, ein ganzes Herbarium, das an verschiedenen
Orten zusammengesucht war. Das sollte mit ins Grab, das hatte er selbst
verlangt. An jede Blume knüpfte sich ein Kapitel seines Lebens.
"Wer ist der Tote?" fragten wir, und die Antwort war: "der alte Student
von Upsala! Er soll einst ein tüchtiger Mann gewesen sein, gelehrte
Sprachen verstanden, Lieder singen und schreiben gekonnt haben, sagt man.
Aber dann ist ihm etwas in die Quere gekommen, und er ersäufte alle
seine Gedanken und sich selbst mit im Branntwein. Und als seine Gesundheit
zerstört war, kam er hier auf das Land hinaus, wo für ihn ein
Kostgeld entrichtet wurde. Er war fromm wie ein Kind, wenn nicht der schwarze
Sinn über ihn kam, denn dann gewann er seine Kräfte wieder und
lief im Walde umher wie ein gejagtes Tier. Aber wenn wir ihn wieder zu
fassen bekamen und ihn dazu brachten, in dies Buch mit den trocknen Pflanzen
hineinzuschauen, konnte er den ganzen Tag sitzen und eine Pflanze nach
der anderen anschauen. Und oftmals liefen ihm die Tränen über
die Wangen dabei nieder. Gott mag wissen, an was er dabei dachte! Aber
das Buch bat er mit in seinen Sarg zu legen, und nun liegt es dort, und
um eine kurze Stunde soll der Deckel zugeschlagen werden und er wird sanft
im Grabe ruhen."
Das Leichentuch wurde gelüftet; es lag Frieden über dem
Antlitz des Toten. Ein Sonnenstrahl fiel darauf, eine Schwalbe schoß
in ihrem pfeilschnellen Fluge in die Laube und wendete sich im Fluge zwitschernd
über des Toten Haupt.
Wie wunderlich ist es doch - wir kennen gewiß alle das Gefühl
- alte Briefe aus unserer Jugendzeit hervorzunehmen und sie wieder zu lesen.
Da taucht gleichsam ein ganzes Leben vor uns auf, mit all seinen Hoffnungen,
all seinen Sorgen. Wie viele von den Menschen, mit denen wir in jener Zeit
so herzlich vertraut zusammen lebten, sind für uns gestorben, obwohl
sie noch leben. Aber wir haben lange Zeit nicht mehr an sie gedacht, von
denen wir einstmals glaubten, daß wir stets mit ihnen verbunden bleiben
und Freude und Leid mit ihnen teilen würden.
Das welke Eichenblatt im Buche hier erinnert an den Freund, an den
Freund aus der Schulzeit, den Freund für das ganze Leben. Er heftete
dieses Blatt an die Studentenmütze im grünen Walde, als der Freundschaftspakt
fürs ganze Leben geschlossen wurde. - Wo lebt er nun? - Das Blatt
wurde bewahrt, die Freundschaft vergessen! - Hier ist eine fremdartige
Treibhauspflanze, zu fein für die Gärten des Nordens - es ist,
als sei noch ein Duft über diesen Blättern. Sie gab sie ihm,
das Fräulein aus dem adligen Garten. Hier ist die Wasserrose, die
er selbst gepflückt und mit salzigen Tränen begossen hat, die
Wasserrose aus den süßen Gewässern. Und hier ist eine Nessel.
Was sagen ihre Blätter? Woran dachte er, als er sie pflückte,
als er sie aufbewahrte? Hier ist das Maiglöckchen aus der Waldeinsamkeit;
hier ist Jelänger-Jelieber aus dem Blumentopf in der Wirtsstube, und
hier sind nackte scharfe Grashalme. Der blühende Flieder breitet seine
frischen, duftenden Dolden über des Toten Haupt, die Schwalbe fliegt
wieder vorüber: "Quivit! Quivit!" - Nun kommen die Männer mit
Nägeln und mit dem Hammer, der Deckel wird über den Toten gelegt,
der sein Haupt auf dem stummen Buche ausruht. Verwahrt - vergessen.
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