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Andersen,
Hans Christian (1805-1875)
Der Garten des Paradieses
Es war einmal ein Königssohn; niemand hatte so viele und so
schöne Bücher wie er.
Alles was in dieser Welt geschehen war, konnte er darin lesen
und in prächtigen Bildern dargestellt sehen.
Über jedes Volk und jedes Land konnte er sich Bescheid darin
holen.
Aber wo der Garten des Paradieses zu finden war, davon stand kein
Wort zu lesen;
und der, gerade der war es, an den er am meisten dachte.
Seine Großmutter hatte ihm erzählt, als er noch ganz klein
war und anfangen sollte,
zur Schule zu gehen, daß jede Blume im Garten des Paradieses
der süßeste Kuchen,
und die Staubfäden der feinste Wein wären.
Auf einer stehe Geschichte, auf einer anderen Geographie oder das
Einmaleins.
Man brauche nur von dem Kuchen zu essen, so könne man seine
Aufgaben,
und je mehr man äße, um so mehr Geschichte, Geographie
und Einmaleins lerne man.
Damals glaubte er das; als er aber größer wurde, mehr
lernte und klüger geworden war,
begriff er wohl,
daß es um die Herrlichkeiten im Garten des Paradieses ganz
anders bestellt sein müsse.
"O, weshalb pflückte Eva doch vom Baume der Erkenntnis?
Warum aß Adam von der verbotenen Frucht?
Das sollte ich gewesen sein, dann wäre es nicht geschehen!
Niemals wäre die Sünde in die Welt gekommen!"
So sprach er damals, und so sprach er noch, als er siebzehn Jahre
alt war.
Der Garten des Paradieses erfüllte sein ganzes Denken.
Eines Tages ging er in den Wald; er ging allein, denn das war seine
größte Freude.
Der Abend sank hernieder, die Wolken zogen sich zusammen, und es
wurde ein Regenwetter,
als sei der ganze Himmel zu einer Schleuse geworden, aus der das
Wasser herabstürzte.
Es war so dunkel, wie es sonst nur des Nachts im tiefsten Brunnen
ist.
Bald glitt er in dem nassen Grase aus, bald fiel er über die
nackten Steine,
die aus dem felsigen Boden hervorragten.
Alles triefte von Wasser; es blieb nicht ein Faden trocken an dem
armen Prinzen.
Er mußte über große Steinblöcke klettern,
wo das Wasser aus dem dicken Moose sickerte.
Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden.
Da hörte er ein sonderbares Sausen, und vor sich sah er eine
große, erleuchtete Höhle.
Mitten darin loderte ein Feuer, so groß, daß man einen
Hirsch daran braten konnte, und dazu diente es auch. Der prächtigste
Hirsch mit seinem großen Geweih war auf einen Spieß gesteckt
und wurde langsam zwischen zwei umgehauenen Tannenbäumen herumgedreht.
Eine ältliche Frau, groß und stark wie eine verkleidete
Mannsperson,
saß beim Feuer und warf ein Stück Holz nach dem andern
hinein.
"Komm nur näher!" sagte sie, "
setze Dich ans Feuer, damit Du Deine Kleider wieder trocken bekommst!"
"Hier zieht es aber sehr!" sagte der Prinz und setzte sich auf den
Boden.
"Es wird noch schlimmer, wenn meine Söhne nach Hause kommen!"
antwortete die Frau.
"Du bist hier in der Höhle der Winde; meine Söhne sind
die vier Winde der Welt.
Verstehst Du das?"
"Wo sind Deine Söhne?" fragte der Prinz.
"Ja, es ist nicht leicht zu antworten, wenn man dumm gefragt wird!"
sagte die Frau.
"Meine Söhne treiben sich auf eigene Faust umher.
Sie spielen Federball mit den Wolken dort im großen Saal!"
und sie zeigte dabei hinauf zu den Wolken.
"Ach so!" sagte der Prinz.
"Ihr sprecht übrigens etwas barsch und seid nicht so sanft
wie die Frauenzimmer,
die sonst um mich herum sind!"
"Ja, die haben auch wahrscheinlich nichts anderes zu tun, ich muß
hart sein,
wenn ich meine Jungen in Zucht halten will!
Aber das kann ich, obgleich sie steife Nacken haben!
Siehst Du die vier Säcke, die an der Wand hängen?
Vor denen haben sie ebenso viel Angst, wie Du vor der Rute hinter
dem Spiegel.
Ich kann die Jungen ducken, kann ich Dir sagen! U
nd dann kommen sie in den Sack; da werden keine Umstände gemacht.
Da sitzen sie und kommen nicht eher wieder heraus, bis ich es für
richtig befinde.
Sieh! da haben wir den einen!"
Es war der Nordwind, der mit einer eisigen Kälte hereintrat.
Große Hagelkörner hüpften über den Fußboden
hin und Schneeflocken wirbelten herum.
Er war in Beinkleidern und einer Jacke aus Bärenfell.
Eine Mütze von Seehundsfell saß ihm über den Ohren,
lange Eiszapfen hingen an seinem Barte,
und ein Hagelkorn nach dem anderen rollte von dem Kragen seiner
Jacke herab.
"Gehen Sie nicht gleich ans Feuer!" sagte der Prinz,
"Sie bekommen sonst leicht Frost im Gesicht und an den Händen!"
"Frost!" sagte der Nordwind und lachte laut.
"Frost! Das ist ja gerade mein größtes Vergnügen!
Was bist Du denn übrigens für ein Jammerkerlchen? Wie
kommst Du in die Höhle der Winde?"
"Er ist mein Gast!" sagte die Alte, "und wenn Du mit dieser Erklärung
nicht zufrieden bist,
so kannst Du in den Sack kommen! - Nun weißt Du meine Ansicht!"
Sieh!, das half, und der Nordwind erzählte, woher er kam,
und wo er fast den ganzen Monat über gewesen war.
"Vom Polarmeer komme ich!" sagte er,
"ich bin auf dem Beeren-Eiland mit den russischen Walroßfängern
gewesen.
Ich saß und schlief am Steuer, als sie vom Nordkap absegelten.
Wenn ich zwischendurch ein wenig erwachte, flog mir der Sturmvogel
um die Beine.
Das ist ein komischer Vogel, er macht einen raschen Schlag mit den
Flügeln,
dann hält er sie unbeweglich ausgestreckt und der Flug geht
doch ebenso schnell weiter."
"Mache es nur nicht so weitschweifig!" sagte die Mutter des Windes.
"Da kamst Du also zum Beeren-Eiland."
"Dort ist es herrlich! Der Boden ist wie geschaffen, um darauf zu
tanzen, flach wie ein Teller! Halbaufgetauter Schnee mit Moos, scharfe
Steine und Gerippe von Walrossen und Eisbären
lagen da und sahen aus wie Riesenarme und beine mit verschimmeltem
Grün.
Man möchte glauben, daß die Sonne nie darauf geschienen
hätte.
Ich blies ein wenig in den Nebel, damit man den Schuppen sehen konnte.
Das war ein Haus, aus Wrackholz erbaut und mit Walroßhäuten
überzogen.
Die Fleischseite war nach außen gekehrt und sah rot und grün
aus.
Auf dem Dache saß ein lebender Eisbär und brummte.
Ich ging nach dem Strande, sah nach den Vogelnestern und erblickte
die nackten Jungen,
die schrien und den Schnabel aufsperrten.
Da blies ich ihnen in die Kehlen, daß sie den Schnabel schließen
lernten.
Unten wälzten sich die Walrosse wie lebende Eingeweide
oder Riesenmaden mit Schweinsköpfen und ellenlangen Zähnen."
"Du erzählst gut, mein Sohn!" sagte die Mutter.
"Das Wasser läuft mir im Munde zusammen, wenn ich zuhöre!"
"Dann ging es auf den Fang!
Die Harpune wurde dem Walroß in die Brust geschleudert,
so daß der dampfende Blutstrahl wie ein Springbrunnen über
das Eis spritzte.
Da dachte ich auch an mein Spiel!
Ich blies und ließ meine Segler, die felsenhohen Eisberge,
die Boote einklemmen;
hui! wie sie pfiffen und schrieen! aber ich pfiff lauter!
Die toten Walroßleiber, Kisten und Tauwerk mußten sie
auf das Eis auspacken.
Ich schüttelte Schneeflocken darüber und ließ sie
in den eingeklemmten Fahrzeugen
mit ihrem Fange nach Süden treiben, um dort Salzwasser zu kosten.
Die kommen nicht mehr nach dem Beeren-Eilande!"
"Dann hast Du schlecht getan!" sagte die Mutter der Winde.
"Was ich Gutes getan habe, mögen die anderen erzählen!"
sagte er.
Aber da haben wir ja unseren Bruder aus dem Westen, den ich am besten
von allen leiden kann.
Er schmeckt nach See und bringt eine gesegnete Kälte mit herein!"
"Ist das der kleine Zephir?" fragte der Prinz.
"Ja, gewiß ist es der Zephir!" sagte die Alte, "aber so klein
ist er gar nicht mehr.
Früher war er ein hübscher Junge, aber damit ist es vorbei!"
Er sah aus wie ein Wilder, aber er hatte einen Fallhut auf, um nicht
zu Schaden zu kommen.
In der Hand hielt er eine Mahagoni-Keule,
die in den amerikanischen Mahagoniwäldern geschlagen war. Unter
dem tat er es nicht!
"Woher kommst Du?" fragte seine Mutter.
"Aus den Urwäldern!" sagte er, "wo die dornigen Lianen eine
Hecke zwischen jeden Baum hängen,
wo die Wasserschlangen in dem nassen Grase liegen und die Menschen
überflüssig zu sein scheinen!"
"Was triebst Du dort?"
"Ich sah den tiefen Fluß, sah, wie er sich von den Felsen
stürzte,
zerstäubte und zu den Wolken emporflog, um den Regenbogen zu
tragen.
Ich sah den wilden Büffel im Flusse schwimmen, aber der Strom
riß ihn mit sich fort,
er trieb mit dem Schwarme wilder Enten, die aufflogen,
wo das Wasser stürzte; aber der Büffel mußte hinunter.
Das gefiel mir, und ich blies einen Sturm, daß uralte Bäume
herausgerissen wurden und zersplitterten."
"Und weiter hast Du nichts getan?" fragte die Alte.
"Ich habe Purzelbäume in den Savannen geschlagen,
ich habe die wilden Pferde gestreichelt und Kokosnüsse geschüttelt!
Ja, ja, ich kann Geschichten erzählen. Aber man soll nicht
alles sagen, was man weiß.
Du kennst mich schon, Du Alte!"
Und dann küßte er seine Mutter, daß sie bald hintenüber
gefallen wäre.
Es war wirklich ein toller Junge!
Nun kam der Südwind mit Turban und fliegendem Beduinenmantel.
"Es ist tüchtig kalt hier drinnen!" sagte er und warf Holzscheite
ins Feuer,
"man kann merken, daß der Nordwind zuerst gekommen ist!"
"Hier ist es so heiß, daß man einen Eisbären braten
kann!" sagte der Nordwind.
"Du bist selbst ein Eisbär!" anwortete der Südwind.
"Wollt Ihr in den Sack gesteckt werden?" fragte die Alte,
"setz Dich auf den Stein dort und erzähle. wo Du gewesen bist."
"In Afrika, liebe Mutter!" antwortete er.
"Ich war mit den Hottentotten auf der Löwenjagd im Kaffernlande!
Welch ein Gras wächst dort auf den Ebenen - grün wie Oliven!
Dort tanzte das Gnu, und der Strauß lief mit mir um die Wette,
aber ich habe doch flinkere Beine.
Ich kam in die Wüste zu dem gelben Sande; da sieht es aus,
wie auf dem Meeresboden.
Ich traf eine Karawane. Sie schlachteten ihr letztes Kamel, um Trinkwasser
zu erhalten,
aber es war nur wenig, was sie bekamen. Die Sonne brannte von oben,
der Sand glühte von unten,
und die weite Wüste dehnte sich grenzenlos.
Da wälzte ich mich in dem feinen, losen Sande und wirbelte
ihn in großen Säulen empor,
das war ein Tanz! Du hättest sehen sollen, wie verzagt das
Dromedar dastand,
und der Kaufmann zog seinen Kaftan über den Kopf.
Er warf sich vor mir nieder wie vor Allah, seinem Gott. Nun sind
sie begraben.
Eine Pyramide von Sand steht über ihnen allen. Wenn ich ihn
einst fortblase,
so wird die Sonne ihre weißen Knochen bleichen,
und die Reisenden können sehen daß hier schon vor ihnen
Menschen gewesen sind;
sonst könnte man es in der Wüste nicht glauben!"
"Du hast also nur Böses getan!" sagte die Mutter "Marsch in
den Sack!"
und ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte sie den Südwind
um den Leib und in den Sack gepackt.
Er wälzte sich auf dem Boden umher, aber sie setzte sich darauf,
und da mußte er denn stilliegen.
"Das sind ein paar wilde Jungen, die Sie haben," sagte der Prinz.
"Ja freilich," antwortete sie, "aber bändigen kann ich sie
doch noch! Da haben wir den vierten!"
Es war der Ostwind; der war wie ein Chinese gekleidet.
"Na, kommst Du aus der Ecke!" sagte die Mutter,
"ich glaubte, Du wärest im Garten des Paradieses gewesen."
"Dorthin fliege ich erst morgen," sagte der Ostwind,
"morgen sind es hundert Jahre her, seitdem ich zuletzt dort war.
Ich komme jetzt aus China, wo ich um den Porzellanturm getanzt habe,
daß alle Glocken erklangen. Unten auf der Straße bekamen
die Beamten Prügel;
das Bambusrohr wurde auf ihren Schultern zerschlagen.
Es waren Leute vom ersten bis neunten Grade und sie schrien:
"Vielen Dank, mein väterlicher Wohltäter!" aber sie meinten
nichts damit, und ich klingelte mit den Glocken und sang: Tsing, tsang,
tsu!"
"Du treibst Mutwillen!" sagte die Alte,
"es ist gut, daß Du morgen in den Garten des Paradieses kommst,
das hat immer einen guten Einfluß auf Deine Erziehung gehabt.
Trinke nur tüchtig aus der Quelle der Weisheit
und nimm auch eine kleine Flasche voll für mich mit nach Haus!"
"Das will ich tun!" sagte der Ostwind.
"Aber warum hast Du meinen Bruder aus dem Süden in den Sack
gesteckt.
Hervor mit ihm! Er soll mir von dem Vogel Phönix erzählen;
von dem Vogel will die Prinzessin im Garten des Paradieses immer
hören,
wenn ich jedes hundertste Jahr dort meinen Besuch mache.
Mach den Sack auf!
Dann bist Du auch meine süßeste Mutter und ich schenke
Dir zwei Taschen voll Tee,
so grün und frisch, wie ich ihn am Ort und Stelle gepflückt
habe!"
"Nun, des Tees wegen und weil Du mein Herzblatt bist, will ich den
Sack wieder aufmachen!"
Das tat sie, und der Südwind kroch heraus,
aber er ließ die Ohren hängen, weil es der fremde Prinz
gesehen hatte.
"Da hast Du ein Palmblatt für die Prinzessin!" sagte der Südwind.
"Dies Blatt hat der alte Vogel Phönix, der einzige, den es
noch in der Welt gibt, mir gegeben;
er hat mit seinem Schnabel seine ganze Lebensgeschichte in den hundert
Jahren, die er lebte, hineingeritzt; nun kann sie es selbst lesen.
Ich sah, wie der Vogel Phönix selbst sein Nest in Brand steckte
und darin saß und verbrannte wie ein Hinduweib. Wie die dürren
Äste krachten!
Es war ein starker Rauch und Duft.
Zuletzt schlug alles in einer großen Lohe empor, der alte
Vogel Phönix wurde zu Asche,
aber sein Ei lag glühend rot im Feuer. Es barst mit einem großen
Knall, und der Junge flog heraus.
Nun ist er König über alle Vögel und der einzige
Vogel Phönix in der Welt.
Er hat ein Loch in das Palmenblatt gebissen, das ich Dir gab, das
soll sein Gruß an die Prinzessin sein."
"Laßt uns nun erst etwas essen!' sagte die Mutter der Winde,
und dann setzten sich alle, um den gebratenen Hirsch zu essen.
Der Prinz saß an der Seite des Ostwindes, und so wurden sie
bald gute Freunde.
"Höre, sage mir einmal," sagte der Prinz, "
was ist das für eine Prinzessin, von der hier soviel gesprochen
wird,
und wo liegt der Garten des Paradieses?"
"Ho, ho" sagte der Ostwind, "willst Du dorthin?
Ja, dann fliege nur morgen mit mir!
Aber das muß ich Dir vorher sagen: es ist noch kein Mensch
dortgewesen s
eit Adams und Evas Zeiten. Die kennst Du doch wohl aus der biblischen
Geschichte?"
"Ja, gewiß!" sagte der Prinz.
"Damals, als sie vertrieben wurden, versank der Garten des Paradieses
in der Erde,
aber er behielt seinen warmen Sonnenschein, seine milde Luft und
all seine Herrlichkeit.
Die Feenkönigin wohnt darin; dort liegt auch die Insel der
Glückseligkeit,
wohin der Tod niemals kommt und wo Glück und Herrlichkeit herrschen.
Setze Dich morgen auf meinen Rücken, dann werde ich Dich mitnehmen!
Ich denke, es wird sich wohl tun lassen!
Aber nun darfst Du nicht mehr sprechen, denn ich will schlafen!"
Und dann schliefen sie alle miteinander.
Zu früher Morgenstunde erwachte der Prinz und war nicht wenig
verblüfft,
daß er sich bereite hoch über den Wolken befand.
Er saß auf dem Rücken des Ostwindes, der ihn getreulich
festhielt.
Sie waren so hoch in den Lüften, daß Wälder und
Felder,
Flüsse und Seen sich wie eine große bemalte Landkarte
ausnahmen.
"Guten Morgen!" sagte der Ostwind.
"Du kannst gern noch ein wenig schlafen,
denn es gibt noch nicht viel zu sehen auf dem flachen Lande unter
uns,
wenn Du nicht gerade Lust hast, die Kirchen zu zählen.
Die stehen wie Kreidepunkte unten in dem grünen Brett."
Es waren die Felder und Wiesen, die er das grüne Brett nannte.
"Das war recht unartig,
daß ich nicht einmal Deiner Mutter und Deinen Brüdern
Lebewohl gesagt habe!"
sagte der Prinz.
"Wenn man schläft, ist man entschuldigt!" sagte der Ostwind,
und darauf flogen sie noch geschwinder von dannen,
man konnte es in den Wipfeln der Bäume hören, denn wie
sie darüber hinfuhren,
raschelten alle Zweige und Blätter. Man konnte es auf dem Meere
und den Seen hören;
denn wo sie flogen, warfen sich die Wogen höher empor,
und die großen Schiffe duckten sich tief ins Wasser wie schwimmende
Schwäne.
Gegen Abend, als es dunkel wurde, sahen die großen Städte
lustig aus.
Die Lichter brannten dort unten, bald hier, bald da, es war gerade,
als ob man ein Stück Papier verbrannt hat und sieht nun die
vielen kleinen Lichtfünckchen
eine nach dem anderen verschwinden, wie Kinder in einer Schule.
Und der Prinz klatschte in die Hände.
Aber der Ostwind bat ihn, das zu lassen und sich lieber festzuhalten,
sonst könne er leicht fallen und an einem Kirchturm hängen
bleiben.
Der Adler in den schwarzen Wäldern fliegt wohl leicht, doch
der Ostwind flog noch leichter.
Der Kosak auf seinem kleinen Pferde jagt über die Steppen dahin,
der Prinz aber jagte schneller dahin.
"Nun kannst Du den Himalaja sehen!" sagte der Ostwind,
"das ist der höchste Berg in Asien; nun werden wir auch bald
im Garten des Paradieses sein!"
Dann wandten sie sich mehr nach Süden,
und bald duftete es nach Gewürzen und Blumen. Feigen und Granatäpfel
wuchsen wild,
und die wilden Weinranken trugen rote und blaue Trauben.
Hier stiegen sie beide ab und streckten sich in das weiche Gras,
wo die Blumen dem Winde zunickten, als ob sie sagen wollten:
"Willkommen hier!"
"Sind wir nun im Garten des Paradieses?" fragte der Prinz.
"Nein, noch nicht!" erwiderte der Ostwind,
"aber nun sind wir bald angelangt.
Siehst Du die Felswand dort und die große Höhle,
vor der die Weinranken wie große, grüne Gardinen hängen?
Dort müssen wir hindurch!
Hülle Dich in Deinen Mantel; hier brennt die Sonne, aber einen
Schritt weiter ist es eisig kalt.
Der Vogel, der an der Höhle vorbeistreift, hat den einen Flügel
hier draußen im warmen Sommer
und den anderen drinnen im kalten Winter!"
"So, das ist also der Weg zum Garten des Paradieses" sagte der Prinz.
Nun gingen sie in die Höhle hinein. Hu! wie eisig kalt es dort
war, aber es währte nicht lange.
Der Ostwind breitete seine Schwingen aus, und sie leuchteten wie
helles Feuer.
Nein, welche Höhle. Große Steinblöcke, von denen
das Wasser herabtropfte,
hingen in den wunderlichsten Gestalten über ihnen.
Bald wurde es so eng, daß sie auf Händen und Füßen
vorwärts kriechen mußten,
bald war es hoch und weit wie in der freien Luft.
Es sah aus wie Grabkapellen mit stummen Orgelpfeifen und versteinerten
Fahnen.
"Wir gehen wohl den Weg des Todes zum Garten des Paradieses?" fragte
der Prinz,
aber der Ostwind antwortete nicht ein einziges Wort, sondern zeigte
vorwärts.
Das herrlichste blaue Licht strahlte ihnen entgegen.
Die Steinblöcke über ihnen verschwanden wie ein Nebel,
der zuletzt durchsichtig wurde wie eine weiße Wolke im Mondenschein.
Nun waren sie in der herrlichsten milden Luft, so erfrischend, wie
auf den Bergen,
so duftend wie die Rosen des Tales.
Ein Fluß strömte dort, so klar wie die Luft selbst,
und die Fische waren silbern und golden; purpurrote Aale,
die bei jeder Windung blaue Feuerfunken sprühten spielten unten
im Wasser,
und die breiten Seerosenblätter hatten die Farbenpracht des
Regenbogens.
Die Blüte selbst war eine rötlich-gelbe Flamme, der das
Wasser Nahrung zuführte,
ebenso wie das Öl beständig die Lampe brennend erhält.
Eine feste Brücke aus Marmor, aber so kunstvoll und fein ausgemeißelt,
als bestände sie aus Spitzen und Glasperlen, führte über
das Wasser zu der Insel der Glückseligkeit, wo der Garten des Paradieses
blühte.
Der Ostwind nahm den Prinzen auf seine Arme und trug ihn hinüber.
Dort sangen die Blumen und Blätter die schönsten Weisen
seiner Kindheit,
aber so schmelzend süß, wie keine menschliche Stimme
hier es vermag.
Waren das Palmbäume oder riesengroße Wasserpflanzen,
die hier wuchsen?
So saftige und große Bäume hatte der Prinz nie zuvor
gesehen.
In langen Ranken hingen die wunderbarsten Schlingpflanzen,
die man sonst nur auf den Rändern alter Heiligenbücher
in Gold und Farben,
oder sich dort durch die Anfangsbuchstaben schlingend, abgebildet
sieht.
Es waren die seltsamsten Zusammensetzungen von Vögeln, Blumen
und Schnörkeln.
Im Grase dicht dabei stand eine Schar Pfauen mit ausgebreiteten,
strahlenden Schweifen.
Ja, es war wirklich so.
Als aber der Prinz sie berührte, merkte er, daß es keine
Tiere, sondern Pflanzen waren.
Es waren große Kletten, deren Blätter hier wie die herrlichen
Pfauenschweife schillerten.
Löwen und Tiger sprangen, gleich geschmeidigen Katzen, durch
die grünen Hecken,
die wie Blüten der Ölbäume dufteten. Und die Löwen
und Tiger waren zahm;
die wilde Waldtaube, schimmernd wie die schönste Perle,
streichelte mit ihren Flügeln die Mähne des Löwen,
und die Antilope, die sonst so scheu ist, s
tand und nickte mit dem Kopfe, als ob sie mitspielen wolle.
Nun kam die Fee des Paradieses. Ihre Kleider strahlten gleich der
Sonne, und ihr Antlitz war mild,
wie das einer glücklichen Mutter, wenn sie sich recht über
ihr Kind freut.
Sie war so jung und schön, und die schönsten Mädchen,
jedes mit einem leuchtenden Stern in der Hand, folgten ihr.
Der Ostwind gab ihr das beschriebene Blatt von dem Vogel Phönix
und ihre Augen funkelten vor Freude; sie nahm den Prinzen bei der
Hand und führte ihn in ihr Schloß, wo die Wände in Farben
strahlten, wie die prachtvollsten Tulpenblätter, die man gegen die
Sonne hält. Die Decke selbst war eine große, strahlende Blume,
und je länger man hinaufstarrte,
desto tiefer schien ihr Kelch zu sein. Der Prinz trat an das Fenster
und sah durch eine der Scheiben.
Da sah er den Baum der Erkenntnis mit der Schlange, und Adam und
Eva standen nahe dabei.
"Sind sie nicht vertrieben worden?" fragte er
und die Fee lächelte und erklärte ihm, daß die Zeit
in jedes Fenster ihr Bild eingebrannt habe,
aber nicht wie man sonst zu sehen pflegte. Nein, es sei Leben darin.
Die Blätter der Bäume bewegten sich, die Menschen kamen
und gingen wie in einem Spiegelbilde.
Und er sah durch eine andere Scheibe.
Da war Jacobs Traum, wo die Leiter bis in den Himmel reichte,
und die Engel mit großen Flügel daran auf und nieder
schwebten.
Ja, alles, was in dieser Welt geschehen war, lebte und bewegte sich
in den Glasscheiben.
So kunstvolle Malereien konnte nur die Zeit einbrennen.
Die Fee lächelte und führte ihn in einen anderen hohen
Saal,
dessen Wände wie durchsichtige Malereien erschienen,
auf denen ein Antlitz immer schöner war als das andere.
Das waren Millionen Selige; sie lächelten und sangen,
so daß es zu einer süßen Melodie zusammenfloß.
Die Allerobersten waren so klein, daß sie kleiner aussahen,
wie die kleinste Rosenknospe,
wenn sie als Pünktlein auf ein Blatt Papier gezeichnet ist.
Mitten im Saale stand ein großen Baum mit hängenden,
üppigen Zweigen.
Goldene Äpfel, große und kleine, hingen wie Apfelsinen
mitten zwischen den grünen Blättern.
Das war der Baum der Erkenntnis, von dessen Frucht Adam und Eva
genossen hatten.
Von jedem Blatt tröpfelte ein glänzend roter Tautropfen,
es war, als ob der Baum blutige Tränen weine.
"Laßt uns nun in das Boot steigen!" sagt die Fee,
"da wollen wir Erfrischungen auf dem schaukelnden Wasser genießen.
Das Boot wiegt sich, bewegt sich jedoch nicht von der Stelle, aber
alle Länder der Welt gleiten an unseren Augen vorüber." Und es
war wundersam zu sehen, wie die ganze Küste sich bewegte.
Da kamen die hohen schneebedeckten Alpen mit Wolken und schwarzen
Tannen,
das Waldhorn erklang tief wehmutsvoll und der Hirt jodelte lustig
im Tale.
Dann bogen Bananenbäume ihre langen, hängenden Zweige
über das Boot nieder,
kohlschwarze Schwäne schwammen auf dem Wasser,
und die seltsamsten Tiere und Blumen zeigten sich am Strande.
Das war Neu-Holland, der fünfte Weltteil, der mit einer Aussicht
auf blaue Berge vorüberglitt.
Man hörte den Gesang der Priester und sah den Tanz der Wilden
zum Schall der Trommel
und der beinernen Trompeten. Ägyptens Pyramiden, die bis in
die Wolken ragten, umgestürzte Säulen, und Sphinxe, halb vom
Sande begraben, segelten vorbei. Das Nordlicht flammte über den vereisten
Kratern des Nordens; das war ein Feuerwerk, das niemand nachmachen kann.
Der Prinz war glückselig, er sah ja hundertmal mehr, als was
wir hier erzählen.
"Und ich kann immer hier bleiben?" fragte er.
"Das kommt auf Dich selbst an!" antwortete die Fee.
"Wenn Du nicht wie Adam Dich gelüsten läßt, das
Verbotene zu tun,
so kannst Du immer hier bleiben."
"Ich werde die Äpfel auf dem Baum der Erkenntnis nicht anrühren!"
sagte der Prinz.
"Hier sind ja tausende von Früchten ebenso schön wie sie."
"Prüfe Dich selbst, und bist Du nicht stark genug,
so gehe mit dem Ostwinde, der Dich herbrachte;
er fliegt nun zurück und kommt erst in hundert Jahren wieder
hierher.
Die Zeit wird Dir an diesem Orte vergehen, als wären es nur
hundert Stunden.
Aber es ist eine lange Zeit für Versuchung und Sünde!
Jeden Abend, wenn ich von Dir gehe, muß ich Dir zurufen: "Komm
mit!"
Ich muß Dir mit der Hand winken, aber bleib zurück!
Geh nicht mit, denn bei jedem Schritte wird Deine Sehnsucht größer
werden:
Du kommst in den Saal, wo der Baum der Erkenntnis wächst;
ich schlafe unter seinen duftenden, hängenden Zweigen.
Du wirst Dich über mich beugen, und ich muß lächeln.
Aber drückst Du einen Kuß auf meinen Mund, dann versinkt
das Paradies tief in die Erde,
und es ist für Dich verloren.
Der Wüste scharfer Wind wird Dich umsausen,
der kalte Regen wird aus Deinem Haar triefen, Kummer und Drangsal
wird Dein Erbteil!"
"Ich bleibe hier!" sagte der Prinz,
und der Ostwind küßte ihn auf die Stirn und sagte: "
Sei stark, dann treffen wir uns hier wieder in hundert Jahren! Lebe
wohl! Lebewohl!"
Und der Ostwind breitete seine großen Schwingen aus;
sie leuchteten wie Wetterleuchten in der Erntezeit oder das Nordlicht
im kalten Winter.
"Lebewohl! "Lebewohl! erklang es von Blumen und Bäumen.
Störche und Pelikane flogen inReihen wie flatternde Bänder
und geleiteten ihn bis an die Grenze des Gartens.
"Nun beginnen unsere Tänze!" sagte die Fee,
"am Schlusse, wenn ich mit Dir tanze, und wenn die Sonne sinkt wirst
Du sehen,
wie ich Dir winke; Du wirst hören, wie ich Dir zurufe: "Komm
mit!
Aber tue es nicht! Hundert Jahre lang muß ich das jeden Abend
wiederholen.
Jedesmal, wenn die Zeit um ist, gewinnst Du neue Kraft; zuletzt
denkst Du nicht mehr daran.
Heute Abend ist es das erste Mal. Nun habe ich Dich gewarnt."
Und die Fee führte ihn in einen großen Saal von weißen,
durchsichtigen Lilien;
die gelben Staubfäden jeder einzelnen bildeten eine kleine
goldene Harfe,
die mit Saitenlaut und Flötentönen erklang. Die schönsten
Mädchen, anmutig und schlank,
in wallende Schleier gekleidet, so daß man die herrlichen
Glieder sah,
schwebten im Tanze und sangen davon, wie herrlich es sei zu leben,
daß sie niemals sterben würden
und daß der Garten des Paradieses ewig blühen werde.
Und die Sonne ging unter, der ganze Himmel überzog sich mit
Gold,
so daß die Lilien wie die herrlichsten Rosen leuchteten,
und der Prinz trank von dem schäumenden Wein, den die Mädchen
ihm reichten
und er fühlte eine Glückseligkeit, wie nie zuvor.
Er sah, wie der Hintergrund des Saales sich öffnete;
der Baum der Erkenntnis stand da in einem Glanz, der seine Augen
blendete;
der Gesang war weich und süß wie einer Mutter Stimme,
und es war,
als ob sie sänge: "Mein Kind! Mein geliebtes Kind!"
Da winkte die Fee und rief liebevoll: "Komm mit! Komm mit!"
Und er stürzte hin zu ihr, vergaß sein Gelübde,
vergaß alles an diesem ersten Abend,
und sie winkte und lächelte.
Der Duft, der würzige Duft ringsumher, wurde stärker,
die Harfen ertönten lieblicher,
und es war, als ob Millionen lächelnder Häupter im Saale,
wo der Baum wuchs,
nickten und sängen: "Alles muß man wissen! Der Mensch
ist der Erde Herr!"
Und es waren nicht länger blutige Tränen, die von den
Blättern des Baumes der Erkenntnis fielen, sondern sie erschienen
ihm wie rote, funkelnde Sterne.
"Komm mit! Komm mit!" klangen die bebenden Töne,
und mit jedem Schritt brannten des Prinzen Wangen heißer,
bewegte sein Blut sich stärker.
"Ich muß;" sagte er, "es ist ja keine Sünde, kann keine
sein!
Weshalb nicht der Schönheit, der Freude folgen!
Nur schlafen sehen will ich sie!
Es ist ja nichts verloren, wenn ich nur unterlasse, sie zu küssen,
und das tue ich nicht,
ich bin stark, ich habe einen festen Willen!"
Und die Fee warf ihr strahlendes Gewand ab,
bog die Zweige zurück, und einen Augenblick später war
sie darin verborgen.
"Noch habe ich nicht gesündigt!" sagte der Prinz, "und will
es auch nicht!"
und dann bog er die Zweige zur Seite.
Da schlief sie schon und war schön, wie nur die Fee im Garten
des Paradieses es sein kann.
Sie lächelte im Traum,
er beugte sich zu ihr nieder und sah Tränen zwischen ihren
Augenwimpern beben!
"Weinst Du um mich?" flüsterte er, "weine nicht, Du herrliches
Weib!
Nun erst begreife ich des Paradieses Glück!
Es strömt durch mein Blut, durch meine Gedanken.
Die Kraft der Cherubim und das ewige Leben fühle ich durch
meine irdischen Glieder fließen,
eine Minute wie diese ist Reichtum genug!"
und er küßte die Tränen von ihren Augen, sein Mund
berührte den ihren.
Da krachte ein Donnerschlag, so tief und schrecklich, wie ihn niemand
je gehört,
und alles stürzte zusammen.
Die herrliche Fee, das blühende Paradies sank.
Es sank tief und immer tiefer, und der Prinz sah es in die schwarze
Nacht sinken.
Wie ein kleiner, leuchtender Stern strahlte so weit, weit fort!
Todeskälte durchschauerte seine Glieder; er schloß die
Augen und lag lange wie tot.
Der kalte Regen fiel auf sein Antlitz, der scharfe Wind blies um
sein Haupt,
da kehrten seine Sinne zurück.
"Was habe ich getan!" seufzte er.
"Ich habe gesündigt wie Adam! Gesündigt, so daß
das Paradies tief hinabgesunken ist!"
Und er öffnete seine Augen.
Den Stern in weiter Ferne, den Stern, der wie das versunkene Paradies
funkelte,
sah er noch - es war der Morgenstern am Himmel.
Er erhob sich und befand sich in dem großen Walde, nahe bei
der Höhle der Winde,
und die Mutter der Winde saß an seiner Seite.
Sie sah zornig aus und erhob ihren Arm in die Luft.
"Schon am Ersten Abend!" sagte sie, "das dachte ich mir wohl!
Ja, wärest Du mein Sohn, so müßtest Du nun in den
Sack!"
"Da soll er auch hineinkommen!" sagte der Tod;
er war ein kräftiger, alter Mann mit einer Sense in der Hand
und mit großen, schwarzen Schwingen.
"In den Sarg soll er gelegt werden, aber nicht jetzt.
Ich will ihn nur zeichnen und will ihn dann noch eine Stunde in
der Welt umher wandern lassen,
damit er seine Schuld sühnen und sich bessern kann. Ich komme
wieder!
Wenn er es am wenigsten erwartet, stecke ich ihn in den schwarzen
Sarg,
setze ihn auf meinen Kopf und fliege zu den Sternen empor.
Auch dort blüht der Garten des Paradieses, und ist er gut und
fromm gewesen,
so darf er eintreten. Aber sind seine Gedanken böse und sein
Herz noch voller Sünde,
so versinkt er in seinem Sarge tiefer, als das Paradies versunken
ist,
und nur in jedem tausendsten Jahre komme ich wieder, damit er noch
tiefer sinke,
oder auf den Stern gelange, jenen funkelnden Stern dort oben!"
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