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Brentano,
Clemens (8.9.1778-1842)
Das Märchen von dem Myrtenfräulein
Im sandigen Lande, wo nicht viel Grünes wächst, wohnten
einige Meilen von der prozellanenen Hauptstadt, wo der Prinz Wetschwuth
residierte, ein Töpfer und seine Frau mitten auf ihrem Tonfeld neben
ihrem Töpferofen, beide ohne Kinder, einsam und allein. Das Land war
ringsum so flach wie ein See, kein Baum und Busch war zu sehen, und es
war gar betrübt und langweilig.
Täglich beteten die guten Leute zum Himmel, er möge ihnen
doch ein Kind bescheren, damit sie eine Unterhaltung hätten,
aber der Himmel erhörte ihre Wünsche nicht. Der Töpfer verzierte
alle seine Gefäße mit schönen Engelsköpfen,
und die Töpferin träumte alle Nacht von grünen Wiesen
und anmutigen Gebüschen und Bäumen, bei welchen Kinder spielten;
denn wonach das Herz sich sehnt, das hat man immer vor Augen.
Einstens hatte der Töpfer seiner Frau zwei schöne Werke
auf ihrem Geburtstag verfertigt, eine wunderschöne Wiege von dem weißesten
Ton, ganz mit goldenen Engelsköpfen und Rosen verziert, und
ein großes Gartengefäß von rotem Ton, rings mit bunten
Schmetterlingen und Blumen bemalt.
Sie machte sich ein Bettchen in die Wiege und füllte das Gartengefäß
mit der besten Erde, die sie selbst stundenweit in ihrer Schürze
dazu herbeitrug,
und so stellte sie die beiden Geschenke neben ihre Schlafstelle,
in beständiger Hoffnung, der Himmel werde ihr ihre Bitte gewähren;
und so betete sie auch einst abends von ganzer Seele:
Herr, ich flehe auf den Knien,
Schenke mir ein liebes Kind,
Fromm will ich es auferziehen:
Ists ein Mägdlein, daß es spinnt
Einen klaren reinen Faden
Und dabei hübsch singt und betet;
Ists ein Sohn durch deine Gnaden,
Daß er kluge Dinge redet
Und ein Mann wird treu von Worten,
Stark von Willen, kühn von Tat,
Der geehrt wird aller Orten,
Wie im Kampfe, so im Rat.
Herr! bereitet ist die Wiege,
Gib, daß mir ein Kind drin liege!
Ach, und sollte es nicht sein,
Gib mir doch nur eine Wonne,
Wärs auch nur ein Bäumelein,
das ich in der lieben Sonne
Könnte ziehen, könnte pflegen,
Daß ich mich mit meinem Gatten
Einst im selbsterzognen Schatten
Unter ihm ins Grab könnt legen.
So betete die gute Frau unter Tränen und ging zu Bett.
In der Nacht war ein schweres Gewitter, es donnerte und blitzte,
und einmal fuhr ein heller Glanz durch die Schlafkammer.
Am andern Morgen war das schönste Wetter, ein kühler Wind
wehte durch das offene Fenster, und die gute Töpferin lag in einem
süßen Traum,
als sitze sie unter einem schönen Myrtenbaum bei ihrem lieben
Manne.
Da säuselte das Laub um sie und sie erwachte, und siehe da!
ein frisches junges Myrtenreis lag neben ihr auf dem Kopfkissen
und spielte mit seinen zarten im Winde bewegten Blättern um
ihre Wangen.
Da weckte sie mit großen Freuden ihren Mann, und zeigte es
ihm, und sie dankten beide Gott auf ihren Knien, daß er ihnen doch
etwas Lebendiges geschenkt hatte, das sie könnten grünen und
blühen sehen.
Sie pflanzten das Myrtenreis mit der größten Sorgfalt
in das schöne Gartengefäß,
und es war täglich ihr liebstes Geschäft, das junge Stämmchen
zu begießen
und in der Sonne zu setzen und vor bösem Tau und rauhen Winden
zu schützen.
Der Myrtenreis wuchs zusehends unter ihren Händen und duftete
ihnen Fried und Freud ins Herz.
Da kam einstens der Landesherr, Prinz Wetschwuth, in diese Gegend
mit einigen Gelehrten, um neue Porzellanerde zu entdecken; denn es wurden
in seiner Hauptstadt Porzellania so viele Häuser davon gebaut, daß
diese Erde in der Nähe der Stadt selten geworden war. Da er in die
Wohnung des Töpfers eintrat, ihn um seinen Rat zu fragen, ward er
bei dem Anblick des Myrtenbäumchens so durch dessen Schönheit
hingerissen, daß er alles andere vergaß und in lauter Verwunderung
ausrief:
"O wie lieblich, wie reizend ist diese Myrte!
Ihr Anblick hat für mein Herz etwas ungemein Erquickendes,
ich möchte immer in der Nähe dieses Baumes leben - nein, ich
kann ihn nicht entbehren, ich muß ihn besitzen, und müßte
ich ihn mit einem Auge erkaufen".
Nach diesem Ausruf fragte er sogleich den Töpfer und seine
Frau, was sie für die Myrte verlangten. Diese guten Leute erklärten
auf die bescheidenste Weise, daß sie den Baum nicht verkaufen wollten,
und daß er das Liebste sei, was sie auf Erden hätten.
"Ach," sagte die Töpferin, "ich könnte nicht leben, wenn
ich meine Myrte nicht vor mir sähe; ja sie ist mir so lieb und wert,
als wäre sie mein Kind, und kein Königreich nähme ich für
diese meine Myrte".
Da der Prinz Wetschwuth dies hörte, ward er sehr traurig und
begab sich nach seinem Schlosse zurück.
Seine Sehnsucht nach der Myrte ward so groß, daß er
in eine Krankheit fiel und das ganze Land um ihn bekümmert wurde.
Da kamen Abgesandte zu dem Töpfer und seiner Frau, und forderten sie
auf, die Myrte dem Prinzen zu überlassen, damit er nicht vor Sehnsucht
sterben möchte. Nach langen Unterhandlungen sagte die Frau:
"Wenn er die Myrte nicht hat, so muß er sterben, und wenn
wir die Myrte nicht haben, so können wir nicht leben; will der Prinz
nun die Myrte haben, so muß er uns auch mitnehmen, wir wollen
sie ihm überbringen und ihn anflehen, daß er uns als treue Diener
in sein Schloß aufnehme, damit wir die geliebte Myrte dann und wann
sehen und uns an ihr erfreuen können".
Das waren die Abgesandten zufrieden, sie schickten gleich einen
Reiter in die Stadt mit der frohen Nachricht, die Myrte werde ankommen,
der Prinz sollte Mut fassen.
Nun stellte der Töpfer das Gefäß mit der Myrte auf
eine Tragbahre, über welche die Frau ihre schönsten seidenen
Tücher gebreitet hatte, und sie trugen beide,
nachdem sie ihre Hütte verschlossen hatten, den geliebten Baum
nach der Stadt,
wohin sie von den Abgesandten begleitet wurden.
Von der Stadt kam ihnen der Prinz selbst in einem Wagen entgegen
und hatte ein goldenes Gießkännchen in der Hand, womit er die
geliebte Myrte begoß, bei deren Anblick er sich sichtbar erholte.
Vier weißgekleidete, mit Rosen geschmückte Jungfrauen
kamen mit einem rotseidenen Traghimmel, unter welchem die Myrte nach dem
Schloß getragen wurde.
Kinder streuten Blumen, und alles Volk war froh und warf die Mützen
in die Höhe.
Nur neun Fräulein in der Stadt waren nicht bei der allgemeinen
Freude zugegen,
denn sie wünschten, daß die Myrte verdorren möchte,
weil der Prinz, ehe er die Myrte gesehen hatte, sie oft besuchte
und jede von ihnen gehofft hatte, einst Beherrscherin der Stadt Porzellania
zu werden.
Seit aber von der Myrte die Rede war, hatte er sich nicht mehr um
sie bekümmert;
drum waren sie auf den unschuldigen Baum so erbittert,
daß sich an diesem Freudentage keine von ihnen erblicken ließ.
Der Prinz ließ die Myrte an das Fenster seiner Stube stellen
und gab dem Töpfer und seiner Frau eine Wohnung im Schloßgarten,
a
us deren Fenster sie die Myrte immer erblicken konnten, womit die
guten Leute dann auch wohl zufrieden waren.
Der Prinz war bald wieder ganz gesund; er pflegte den Baum mit einer
unbeschreiblichen Liebe und Sorgfalt; auch wuchs dieser und breitete sich
aus zu aller Freude.
Einstens setzte sich der Prinz abends neben dem Baume auf sein Ruhebett.
Alles war ruhig im Schloß, und er entschlummerte in tiefen
Gedanken.
Da nun die Nacht alles bedeckt hatte,
hörte er ein wunderbares Säuseln in seinem Baum und erwachte
und lauschte;
da vernahm er eine leise Bewegung in seiner Stube herum, und ein
süßer Duft breitete sich umher.
Er war stille, stille und lauschte immerfort;
endlich, da es ihm wieder so wunderbar in der Myrte säuselte,
begann er zu singen:
"Sag, warum dies süße Rauschen,
Meine wunderschöne Myrte!
O mein Baum, für den ich so glühe?
Da sang eine liebliche leise Stime wider:
Dank will ich für Freundschaft tauschen
Meinem wunderguten Wirte,
Meinem Herrn, für den ich blühe!"
Da war der Prinz über die Stimme so entzückt, daß
es nicht auszusprechen ist;
aber bald ward seine Freude noch viel größer, denn er
bemerkte, d
aß sich jemand auf den Schemel zu seinen Füßen
setzte, und da er die Hand darnach ausstreckte, ergriff eine zarte
Hand die seinige und führte sie an die Lippen eines Mundes, welcher
sprach:
"Mein teurer Herr und Prinz! frage nicht, wer ich bin;
erlaube mir nur dann und wann in der Stille der Nacht zu deinen
Füßen zu sitzen
und dir zu danken für die treue Pflege, welche du mir in der
Myrte bewiesen,
denn ich bin die Bewohnerin dieser Myrte;
aber mein Dank für deine Zuneigung ist so gewachsen, daß
er keinen Raum mehr in diesem Baume hatte, und so hat es mir der Himmel
vergönnt, in menschlichen Gestalt dir manchmal nahezusein".
Der Prinz war entzückt über diese Worte und pries sich
unendlich glücklich durch dies Geschenk der Götter.
Sie unterhielten sich einige Stunden, und sie sprach so weise und
klug,
daß er vor Begierde brannte, sie von Angesicht zu Angesicht
zu sehen.
Das Myrtenfräulein aber sagte zu ihm:
"Laß mich erst ein kleines Lied singen, dann kannst du mich
sehen", und sie sang:
"Säusle, liebe Myrte!
Wie still ists in der Welt,
Der Mond, der Sternenhirte
Auf klarem Himmelsfeld,
Treibt schon die Wolkenschafe
Zum Born des Lichtes hin,
Schlaf, mein Freund, o schlafe,
Bis ich wieder bei dir bin".
Dazu säuselte die Myrte, und die Wolken trieben so langsam am
Himmel hin,
und die Springbrunnen plätscherten so leise im Garten, und
der Gesang war so sanft,
daß der Prinz einschlief, und als er kaum nickte, erhob sich
das Myrtenfräulein leise, leise vom Schemel und begab sich wieder
in die Myrte.
Als der Prinz am Morgen erwachte, erblickte er den Schemel leer zu
seinen Füßen,
und er wußte nicht, ob das Myrtenfräulein wirklich bei
ihm gewesen war,
oder ob er nur geträumt habe; aber da er das Bäumchen
ganz mit Blüten übersät sah,
die in der Nacht aufgegangen waren, ward er der Erscheinung immer
gewisser.
Nie ward die Nacht so sehnsüchtig erwartet als von ihm;
er setzte sich schon gegen Abend auf sein Ruhebett und harrte.
Endlich war die Sonne hinunter, es dämmerte, es ward Nacht.
Die Myrte säuselte, und das Myrtenfräulein saß zu
seinen Füßen
und erzählte ihm so schöne Sachen, daß er nicht
genug zuhören konnte,
und als er sie wieder bat, Licht anzünden zu dürfen, sang
sie ihm wieder ein Liedchen:
"Säusle, liebe Myrte!
Und träum im Sternenschein,
Die Turteltaube girrte
Auch ihre Brust schon ein.
Still ziehn die Wolkenschafe
Zum Born des Lichtes hin,
Schlaf, mein Freund, o schlafe,
Bis ich wieder bei dir bin".
Da schlummerte der Prinz wieder ein und erwachte am Morgen wieder
mit der gleichen Überraschung und erwartete die Nacht wieder mit gleicher
Sehnsucht.
Aber es ging ihm auch diesmal wie in der ersten und zweiten Nacht,
sie sang ihn immer in den Schlaf, wenn er sie zu sehen verlangte.
Sieben Nächte ging dies so fort, während welchen sie ihm
so vortreffliche Lehren über die Kunst zu regieren gab, daß
seine Begierde, sie zu sehen, nur noch größer ward.
Er lies daher am andern Tage an die Decke seiner Stube ein seidenes
Netz befestigen, welches er ganz leise niederlassen konnte, und so
erwartete er die Nacht.
Als das Myrtenfräulein wieder zu seinen Füßen saß
und ihm die tiefsinnigsten Lehren über die Pflichten eines
guten Fürsten gegeben hatte, wollte sie ihm wieder das Schlaflied
singen, aber er sprach zu ihr:
"Heute will ich einmal singen", und sie gab es nach vielen Bitten
zu; da sang er folgendes Liedchen:
"Hörst du, wie die Brunnen rauschen?
Hörst du, wie die Grille zirpt?
Stille, stille, laß uns lauschen,
Selig, wer in Träumen stirbt;
Selig, wen die Wolken wiegen,
Wem der Mond ein Schlaflied singt!
O! wie selig kann der fliegen,
Dem der Traum den Flügel schwingt,
Daß an blauer Himmelsdecke
Sterne er wie Blumen pflückt:
Schlafe, träume, flieg, ich wecke
Bald dich auf und bin beglückt".
Und dies Lied wirkte so durch die sanfte Weise, in welcher er es
sang,
daß das Myrtenfräulein zu den Füßen des Prinzen
entschlummerte;
da ließ er das Netz nieder über sie und zündete
seine Lampe an,
und o Himmel! was sah er?
Die wunderschönste Jungfrau, welche jemals gelebt,
im Antlitz wie der klare Mond so mild und rein, Locken wie Gold
um die Stirne spielend und auf dem Haupt ein Myrtenkrönchen; sie hatte
ein grünes Gewand an,
mit Silber gestickt, und ihre Hände gefaltet wie ein Engelchen.
Lange betrachtete er seine Freundin und Lehrerin mit stummen Erstaunen,
dann konnte er seine Freude nicht mehr fassen, er brach in lautem
Jubel aus und rief:
"O Tugend! o Weisheit! wie schön ist deine Gestalt; wer kann
leben ohne dich, wenn er dich einmal erblickte."
Dann ergriff er ihre Hand und steckte ihr seinen Siegelring an den
Finger und sprach:
"Erwache, o meine holdselige Freundin! nimm meinen Thron und meine
Hand und verlasse mich nie wieder."
Da erwachte das Myrtenfräulein, und als es das Licht erblickte,
errötete es über und über, und blies die Lampe aus. Dann
klagte sie, daß er sie gefangen habe,
und sagte, daraus wird gewiß Unglück kommen; aber der
Prinz bat sie so sehr um Vergebung, bis sie ihm verzieh und versprach,
die Fürstin seines Landes zu werden,
wenn ihre Eltern es erlaubten, er sollte nur alle Anstalten zur
Hochzeit machen und dann ihre Eltern fragen; bis dahin sollte er sie aber
nicht wiedersehen.
Der Prinz willigte in alles ein und fragte sie, wie er sie rufen
solle, wenn er alle Anstalten getroffen habe, und sie sagte:
"Befestige eine kleine Silberglocke an die Spitze meines Bäumchens,
und sobald du klingelst, werde ich erscheinen." Nun zerriß sie das
Netz, der Baum rauschte, und fort war das Myrtenfräulein.
Der Tag war kaum angebrochen, als der Prinz auch schon alle seine
Minister und Räte zusammenberief und ihnen bekannt machte, daß
er sich nächstens zu vermählen gedenke und daß sie alle
Anstalten zu dem prächtigsten Hochzeitsfeste treffen sollten, das
jemals im Land gewesen. Die Räte waren sehr erfreut darüber und
fragten ihn untertänigst um den Namen der Braut, damit sie ihren Namenszug
bei der Illumination anbringen könnten. Da sagte der Prinz:
"Der erste Buchstabe ihres Namens ist M
und es sollen beim Feste überall Myrtenzweige hingemalt werden,
wo es sich schickt".
Da wollten die Herren ihn schon verlassen, als plötzlich eine
Botschaft kam,
daß ein wildes Schwein in dem fürstlichen Tiergarten
toll geworden wäre
und in dem darin befindlichen gläsernen Lusthause alles chinesische
Porzellan zertrümmert habe; es sei äußerst nötig,
es sogleich zu erlegen, damit es nicht andere Schweine beiße und
auch toll mache, welche dann leicht die ganze Stadt Porzellania über
den Haufen werfen könnten. Da durfte der Prinz nicht länger zaudern;
er befahl seinen Räten, einstweilen die Hochzeit zuzubereiten, und
zog mit seinen Jägern hinaus auf die Jagd.
Als der Prinz aus dem Schloß ritt, lagen die neun bösen
Fräulein, welche sich nicht mit gefreut hatten, als Myrte so feierlich
in die Stadt gebracht wurde, sehr schön geputzt am Fenster,
in der Hoffnung, der Prinz werde sie bemerken und grüßen;
aber vergebens, wenn sie sich gleich so weit herauslegten,
daß sie leicht hätten auf die Straße fallen können:
der Prinz tat nicht, als wenn er sie bemerkte. Hierüber aufgebracht,
kamen sie zusammen und faßten den Entschluß, sich zu rächen.
Die Geschichte mit dem tollgewordenen wilden Schwein war auch nur von ihnen
ausgesprengt, damit der Prinz, der sich gar nicht mehr sehen ließ,
über die Straße reiten sollte: sie hatten das chinesische Porzellan
in dem Lusthaus durch ihre Diener zerschlagen lassen. Als sie eben versammelt
waren, trat der Vater der Ältesten, der einer der Minister war, herein,
und machte den Damen bekannt, sie möchten sich zum Hochzeitsfest des
Prinzen vorbereiten; der Prinz werde eine Prinzessin M. heiraten, auch
sei von vielen Myrtenverzierungen bei der Illumination die Rede. Kaum waren
sie wieder allein, als sie ihrem ganzen Zorn den Lauf ließen;
denn sie hatten sich alle neun eingebildet, den porzellanenen Thron
zu besteigen.
Sie ließen sich einen Maurer kommen, der mußte ihnen
einen unterirdischen Gang bis in die Stube des Prinzen machen; denn sie
wollten sehen, wen er dort versperrt habe. Als der Gang fertig war, beredeten
sie noch ein zehntes junges Fräulein, der sie jedoch ihr Vorhaben
verschwiegen, mitzugehen, welche es auch tat, doch nur aus Neugier und
nicht aus bösem Willen; sie nahmen sie aber nur mit, um sie dort zurückzulassen,
als habe sie alles getan.
Hierauf begaben sie sich in einer Nacht mit Laternen versehen durch
den Gang in die Stube des Prinzen und suchten alles durch, sehr verwundert,
nichts Besonderes darin zu finden außer der Myrte. An dieser ließen
sie nun allen ihren Grimm aus, rissen ihr Zweige und Blätter ab, und
als sie auch den Wipfel herunterrissen, klingelte das Glöckchen, und
das Myrtenfräulein, welches glaubte, es sei dies das Zeichen zu ihrer
Hochzeit, trat plötzlich in dem schönsten Brautkleide aus der
Myrte.
Anfangs verwunderten sich die bösen Geschöpfe, aber bald
waren sie einig,
dieses müßte die künftige Fürstin sein, und
somit fielen sie über sie her und ermordeten sie auf die unbarmherzigste
Weise, indem sie das arme Myrtenfräulein mit ihren Messern in viele
kleine Stücke zerhackten; jede nahm sich einen Finger von dem armen
Myrtenfräulein mit; nur das zehnte Fräulein hatte nicht mitgeholfen
und nur immer gejammert und geweint, wofür sie sie dann einsperrten
und nun auf demselben Wege entwichen.
Als der Kammerdiener des Prinzen, welchem dieser bei Lebensstrafe
befohlen hatte,
die Myrte täglich zu begießen und täglich die Stube
aufzuräumen, als wenn der Prinz da wäre, zu seiner Verrichtung
hereintrat, war sein Entsetzen unbeschreiblich,
da er das zerfleischte Myrtenfräulein in dem Blute an der Erde
herumliegen
und den Myrtenbaum zerknickt und entblättert sah.
Er wußte nicht, was dies sein konnte, denn er wußte
von dem Myrtenfräulein nichts;
da erzählte ihm das junge Fräulein, welches weinend in
einer Ecke saß, alles.
Sie nahmen unter bittern Tränen alle Glieder und Knochen der
Unglücklichen zusammen und begruben sie unter dem zerstörten
Myrtenbaum in das Gefäß, so daß alles einen kleinen Grabhügel
bildete; sodann wuschen sie den Boden so rein sie konnten, und begossen
den Baum mit dem blutverschmierten Wasser, räumten die Stube auf,
schlossen sie zu, und flohen in großer Angst miteinander;
doch nahm das Fräulein eine Locke der unglücklichen Gemordeten
zum Andenken mit.
Unterdessen waren die Vorbereitungen zu der Hochzeit beinahe fertig,
und der Prinz, der das wilde Schwein vergebens aufgesucht hatte,
kehrte nach der Stadt zurück. Sein erster Gang war zu dem guten Töpfer
und seiner Frau,
welchen er seine Geschichte mit dem Myrtenfräulein erzählte
und sie um die Hand ihrer Tochter bat. Die guten Leute waren vor Entzücken
fast außer sich, als sie vernahmen, daß in ihrem Myrtenbaum
ihnen eine Tochter erwachsen sei, und wußten nun, warum sie denselben
so ungemein liebgehabt hatten.
Freudig willigten sie in die Bitte des Prinzen ein und begleiteten
ihn in das Schloß, um ihre wunderbare Tochter zu sehen. Als sie nun
zusammen in das Zimmer traten, wo die Myrte stand, sahen ihre Augen ein
trauriges Schauspiel:
- am Boden noch viele blutige Spuren, und der geliebte Baum entblättert
und verletzt,
neben ihm aber ein Grabhügel. Der Prinz rief, der Töpfer
rief, die Töpferin rief:
"O meine geliebte Braut! o mein teures Kind! mein einziges liebes
Töchterchen!
O wo bist du, laß dich sehen vor deinen unglücklichen
Eltern!"
Aber nichts rührte sich, und ihre Verzweiflung war unbegrenzt.
Die drei armen Unglücklichen saßen nun ganze Tage und
begossen den Myrtenbaum mit ihren Tränen, und das ganze Land war bestürzt
und traurig.
Unter solchen Schmerzen pflegten und warteten der Prinz und der Töpfer
nebst seiner Frau den kranken Myrtenbaum aufs zärtlichste,
und er begann wieder Zweige zu treiben, worüber sie sehr erfreut wurden,
und er war schon wieder ganz hergestellt, nur fehlten ihm an dem Wipfel
einige Blätter und an einem seiner beiden Hauptäste die äußersten
fünf Sprossen und an dem andern vier, neben welchen der fünfte
zu keimen anfing.
Diesen fünften Sproß beobachtete der Prinz alle Tage,
und wie entzückt war er nicht,
als er eines Morgens diesen Sproß ganz erwachsen und den Ring,
den er dem Myrtenfräulein gegeben, an demselben wie an einem Finger
befestigt sah. Sein Entzücken war unbeschreiblich; denn er glaubte
nun, das Myrtenfräulein müsse noch leben. In der nächsten
Nacht saß er mit dem Töpfer und der Töpferin bei dem Baum,
und sie flehten die Myrte so zärtlich um ein Lebenszeichen
an,
daß der Baum endlich zu säuseln begann und folgende Worte
sang:
"Habt Erbarmen,
An zwei Armen
Fehlen mir neun Fingerlein.
Lieber Prinz! in deinem Reiche
Wachsen jetzt neun Myrtenzweige,
Und sie sind mein Fleisch und Bein.
Habt Erbarmen,
Schafft mir Armen
Wieder die neun Fingerlein".
Der Prinz und die Eltern waren durch dies traurige Lied sehr gerührt,
und der Prinz ließ den andern Tag im ganzen Lande bekanntmachen,
wer ihm die schönsten Myrtenzweige bringe, den wolle er mit
seiner königlichen Hand belohnen. Dieses kaum auch zu den Ohren der
Mordfräulein, welche die arme Myrte so schrecklich gemartert hatten,
und sie waren sehr froh darüber: denn sie hatten die neun Finger des
Myrtenfräuleins, jede den ihren, in einen Topf mit Erde vergraben,
und es waren kleine Myrtensprosse daraus erwachsen.
Sie putzten sich gleich schön an und kamen eine nach der andern
mit ihren Myrtenzweigen ins Schloß; denn sie glaubten, die Worte
des Prinzen wollten soviel sagen, als wolle er die Überbringerin der
schönsten Myrte heiraten.
Der Prinz ließ ihnen die Myrtenzweige abnehmen und versprach
ihnen seiner Zeit Antwort sagen zu lassen; sie möchten sich nur zum
Feste vorbereiten. Als er nun alle die neun Zweige neben den großen
Baum gestellt hatte, sprach die Stimme aus dem Baum:
"Willkomm, willkomm, neun Zweigelein!
Willkomm, willkomm, neun Fingerlein!
Willkomm, willkomm, mein Fleisch und Bein!
Willkomm, willkomm, zum Topf herein!"
Da begrub der Prinz die neun Zweige und die neun Finger unter die
Myrte,
welche noch denselben Tag die neun fehlenden Sprossen trieb.
Nun aber kam noch das jüngste Fräulein, welche nur die
Haarlocke genommen und ihr den Ringfinger gelassen hatte, und warf sich
dem Prinzen zu Füßen und sagte:
"Herr! ich habe keine Myrte und habe auch keine haben wollen;
aber diese Locke gebe ich in deine Hand und bitte dich um eine Gnade."
Der Prinz versprach sie ihr, und sie erzählte ihm, wie die
ganze Mordtat geschehen sei, und bat ihn, er möge seinem entflohenen
Kammerherrn verzeihen und sie mit demselben vermählen. Da gab ihr
der Prinz einen Gnadenbrief für denselben,
und sie lief zu ihm in den Wald, wo er sich in einem hohlen Baum
versteckt hatte,
in den sie ihm täglich zu essen gebracht. Der Kammerherr erfreute
sich sehr über sein Glück und kam mit ihr wieder in die Stadt.
Als aber der Prinz die Haarlocke auch vergraben hatte, sprach die Myrte:
"Nun bin ich ganz
Im alten Glanz,
Bring mir den Kranz
Und führe mich zum Hochzeitstanz"
Da ließ der Prinz ein großes Fest vor allem Volke im
Schloßgarten ansagen;
da alles versammelt war, ward die Myrte unter einen Thronhimmel
gestellt,
und der schönste Blumenkranz, mit Gold durchwunden, ward ihr
von dem Töpfer und der Töpferin aufgesetzt, und als dies kaum
geschehen war, trat das Myrtenfräulein, wie die schönste Braut
geschmückt, aus dem Baum hervor und ward von ihren Eltern, welche
sie noch nie gesehen hatten, unter Freudentränen und dann von dem
glücklichen Prinzen als seine Braut herzlich umarmt.
Da standen die neun Mordfräulein wie auf heißen Kohlen;
der Prinz aber sprach:
"Was verdient der, welche diesem Myrtenfräulein etwas zu Leide
tut?"
Und einer sagte da nach dem andern irgendeine harte Strafe her,
und als die Frage an die neun Fräulein kam, sagten sie alle zusammen:
"Daß ihn die Erde verschlinge und seine Hand aus der Erde
wachse"
und kaum hatten sie es gesagt, als die Erde sie auch verschlang
und über ihnen Fünffingerkraut hervorwuchs.
Nun wurde die Hochzeit gehalten, und der Kammerherr hielt mit dem
jüngsten Fräulein auch Hochzeit.
Es schenkte dem Prinzen der Himmel auch bald ein kleines Myrtenprinzchen,
das ward in der schönen Wiege des alten Töpfers gewiegt,
und das ganze Land war froh und glücklich.
Der Myrtenbaum aber ward bald so stark und groß, daß
man ihn ins Freie setzen mußte. Da begehrte die Prinzessin Myrte,
daß er neben die ehemalige Hütte ihrer Eltern gesetzt werde;
das geschah auch, und die Hütte ward zu einem schönen Landhaus
verändert, und endlich ward aus dem Myrtenbaum ein Myrtenwald,
und die Enkel des Töpfers und seiner Frau spielten darin, und
die beiden guten Leute wurden dort, wie sie gewünscht hatten, unter
dem Myrtenbaum begraben.
Der Prinz und das Myrtenfräulein ruhen wohl auch schon dort,
wenn sie nicht mehr leben sollten, woran ich fast zweifle; denn es ist
schon sehr lange her...
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