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Novalis (eigentl. Friedrich Freiherr von Hardenberg, 1772-1801)
Die blaue Blume
Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren ringförmigen
Takt,
vor dem klappernden Fenstern sauste der Wind;
abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes.
Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager
und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen.
"Nicht die Schätze sind es,
die ein so unaussprechliches Verlangen in mir
geweckt haben", sagte er zu sich selbst;
"fernab liegt mir alle Habsucht:
aber die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken.
Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn,
und ich kann nichts anders dichten und denken.
So ist mir noch nie zumutegewesen:
es ist, als hätt' ich vorhin geträumt
oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert;
denn in der Welt, in der ich sonst lebte,
wer hätte da sich um Blumen bekümmert,
und gar von einer so seltsamen Leidenschaft
für eine Blume hab' ich damals nie gehört..."
Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach,
wurde es stiller in seiner Seele,
klarer und bleibender wurden die Bilder.
Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunkeln Walde allein...
Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots;
eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres;
mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich
zu vermischen;
neue, niegesehene Bilder entstanden,
die auch ineinanderflossen und gut sichtbaren Wesen um ihn wurden...
Was ihn aber mit voller Macht anzog,
war eine hohe lichtblaue Blume,
die zunächst an der Quelle stand
und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte.
Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben,
und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft.
Er sah nichts als die blaue Blume
und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit.
Endlich wollte er sich ihr nähern,
als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing;
die Blätter wurden glänzender
und schmiegten sich an den wachsenden Stengel,
die Blume neigte sich nach ihm zu,
und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten
Kragen,
in welchem ein zartes Gesicht schwebte...
(aus "Heinrich
von Ofterdingen") |
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