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Raabe, Wilhelm (1831-1910)

[Der Kranz]

Es war ein kunstreiches und zierliches Gewinde von weißen und blauen Holunderblüten und Blättern, und ein langes einzelnes blondes Haar hatte sich darin verflochten, als die Tote diesen Kranz nach jener Ballnacht, welcher das böse Fieber folgte, aus den Locken nahm.

Viele Arten von Kränzen gibt es in der Welt, und auf mancherlei Weise strebt die Welt danach, gewinnt oder verliert sie.

Ist nicht jedes Leben an und für sich der Versuch, einen Kranz zu winden?
Jeder begibt sich nach besten Kräften und Vermögen ans Werk; man hat Glück oder Unglück dabei: es kommen oft sehr schöne, oft aber auch sehr häßliche Machwerke zutage. Manch ein Kranz wird zerrissen, noch ehe er vollendet ist, und manch ein stolzer Kranz, den irgendein Menschenkind lange auf erhobenem Haupte trug, fällt zuletzt in eine fremde Hand, die ihn hält, die ihn, Blatt für Blatt, untersucht und zerpflückt, während eine winterlich-nüchterne Sonne, allem falschen, geborgten Schimmer abhold, darauf scheint.

So war es freilich nicht mit dem Gewinde, welches ich jetzt in der Hand hielt. Zu allem andern bestand es aus den Blüten des Holunders, und trotzdem, da es nur ein künstlich angefertigtes Ding war, war es doch von so frischer Lebendigkeit, daß der Greis, auf dessen Haupte längst der Schnee des Alters sich sammelte, in immer entlegenere, in immer blauere Fernen seines Lebens entrückt wurde. Erinnerungen wachten auf, welche im Grunde wenig mit diesem Putz der jungen Abgeschiedenen zu tun hatten.

Die Holunderblüte war schuld daran, daß ich im tiefen, bittern Ernst an das Gewinde dachte, welches auch um mein Leben, teilweise von meiner eigenen Hand geschlungen, lag und dessen beide Enden sich nun so bald berühren mußten.

Das Lied, welches auf dem Klavier aufgeschlagen lag, war viel mehr für mich geschrieben als für die junge Tote, die nach kurzem und glücklichem Atmen auf dieser Erde sanft, still und schmerzlos eingeschlafen war, welche diesen Kranz von schönen Frühlingsblüten auf schönerem Köpfchen getragen hatte, ein liebliches Symbol ihres Lebens und Kranzwindens.

(Aus "Holunderblüte")


Weitere Zitate und Gedichte von Raabe

Buchtipp:
Die Chronik der Sperlingsgasse Reclam 1986

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