Herman Bang Einsam am Heiligen Abend
Jedesmal wenn Weihnachten kommt, muss ich
an Herrn Sörensen denken. Er war der erste Mensch in meinem Leben,
der ein einsames Weihnachtsfest feierte, und
das habe ich nie vergessen können.
Herr Sörensen war mein Lehrer in der ersten
Klasse. Er war gut. Im Winter bröselte er sein ganzes Frühstücksbrot
für die hungrigen Spatzen vor dem Fenster zusammen. Und wenn im Sommer
die Schwalben ihre Nester unter den Dachvorsprung klebten, zeigte er uns
die Vögel, wie sie mit hellen Schreien hin und her flogen.
Aber seine Augen blieben immer betrübt.
Im Städtchen sagten sie, Herr Sörensen sei ein wohlhabender Mann.
"Nicht wahr, Herr Sörensen hat Geld?"
fragte ich einmal meine Mutter. "Ja, man sagt's."
"Ja ... ich hab' ihn einmal weinen sehen,
in der Pause, als ich mein Butterbrot holen wollte ..."
"Herr Sörensen ist vielleicht so betrübt,
weil er so allein ist", sagte meine Mutter.
"Hat er denn keine Geschwister?" fragte ich.
"Nein - er ist ganz allein auf der Welt..."
Als dann Weihnachten da war, sandte mich meine
Mutter mit Weihnachtsbäckereien zu Herrn Sörensen. Wie gut ich
mich daran erinnere.
Unser Stubenmädchen ging mit, und wir
trugen ein großes Paket, mit rosa Band gebunden, wie die Mutter stets
ihre Weihnachtspäckchen schmückte. Die Treppe von Herrn Sörensen
war schneeweiß gefegt. Ich getraute mich kaum einzutreten, so rein
war der weiße Boden.
Das Stubenmädchen überbrachte die
Grüße meiner Mutter.
Ich sah mich um. Ein schmaler hoher Spiegel
war da, und rings um ihn, in schmalen Rahmen, lauter schwarz geschnittene
Profile, wie ich sie nie vorher gesehen hatte. Herr Sörensen zog mich
ins Zimmer hinein und fragte mich, ob ich mich auf Weihnachten freue. Ich
nickte.
"Und wo wird Ihr Weihnachtsbaum stehen, Herr
Sörensen?" - "Ich? Ich habe keinen, ich bleibe zu Hause."
Und da schlug mir etwas aufs Herz beim Gedanken
an Weihnachten in diesem "Zuhause".
In dieser Stube mit den schwarzen kleinen
Bildern, den schweigenden Büchern und dem alten Sofa, auf dem nie
ein Mensch saß
- ich fühlte das Trostlose, das Verlassene
in dieser einsamen Stube, und ich schlug den Arm vors Gesicht und weinte.
Herr Sörensen zog mich auf seine Knie
und drückte sein Gesicht an meines. er sagte leise: "Du bist ein guter,
kleiner Bub."
Und ich drückte mich noch fester an ihn
und weinte herzzerbrechend.
Als wir heimkamen, erzählte das Stubenmädchen
meiner Mutter, ich hätte gebrüllt.
Aber ich schüttelte den Kopf und sagte:
"Nein, ich habe nicht gebrüllt. Ich habe geweint.
Und weißt du, ich habe deshalb geweint,
weil nie jemand zu Herrn Sörensen kommt. Nicht einmal am Heiligen
Abend..."
Später, als wir in eine andere Stadt zogen,
verschwand Herr Sörensen aus meinem Leben. Ich hörte nie mehr
etwas von ihm.
Aber an jenem Tag, als ich an seiner Schulter
weinte, fühlte ich, ohne es zu verstehen, zum ersten Male, dass es
Menschen gibt, die einsam sind. Und dass es besonders schwer ist, allein
und einsam zu sein an Weihnachten.
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